Jahresrückblick eines Business-Beraters, der lieber Systeme bauen würde
Von Christian Schappeit | 24. Dezember 2025
Ich muss etwas gestehen: Ich habe im September einen Artikel geschrieben, der vielen Leuten sauer aufgestoßen ist. "Europas digitale Selbstfesselung" hieß er. Darin beschrieb ich, wie wir uns mit DSGVO, DMA und AI Act selbst lähmen, während Silicon Valley und Shenzhen die Zukunft bauen. Die Reaktionen waren... gespalten. Von "endlich sagt's mal einer" bis "Nestbeschmutzer" war alles dabei.
Jetzt, drei Monate später, sitze ich wieder am Schreibtisch. Zwischen mir und dem Bildschirm stapeln sich Studien, Prognosen, Analysen. Und ich frage mich: Soll ich wirklich noch einen Artikel schreiben? Wird sich irgendwas ändern? Wahrscheinlich nicht. Aber hier ist er trotzdem. Weil manchmal muss man Dinge aussprechen, auch wenn sie keiner hören will.
Eigentlich berate ich Unternehmen bei Business-Systemen. CRM-Implementierungen für Pharma und Biotech. Datenmanagement-Strategien, die regulatorische Anforderungen erfüllen müssen. Content-Management-Systeme, die GxP-konform dokumentieren.
Systeme, die Wachstum ermöglichen sollen.
Die Realität 2025? Ein typisches Projekt sieht mittlerweile so aus:
25% System-Implementation
15% Change Management
60% Compliance-Dokumentation
Ich verdiene gut damit. Die Stunden werden bezahlt. Compliance ist ein lukratives Geschäft. Aber ist das unser Ziel? Sollen wir wirklich 60% unserer Zeit damit verbringen, zu dokumentieren warum ein CRM-System DSGVO-konform ist, statt es zu bauen?
Ich bin kein Compliance-Berater geworden. Ich wollte Systeme bauen, die Unternehmen besser machen. Die Sales-Teams produktiver, Marketing-Teams datengetriebener, Service-Teams reaktionsschneller. Stattdessen schreibe ich Data Processing Agreements, erstelle DSGVO-Dokumentationen, bereite AI Act Assessments vor. Und jetzt kommt KI dazu. Mit noch mehr regulatorischen Anforderungen.
Vergessen Sie die Schlagzeilen über GPT-5 oder Gemini Ultra. Das war nicht die eigentliche Story. Die echte Revolution fand woanders statt, und die meisten haben sie verpasst. KI ist vom Tool zum Kollegen geworden.
Ich meine das nicht metaphorisch. Ich rede von Agentic AI – autonomen Systemen, die nicht einfach nur Fragen beantworten, sondern eigenständig arbeiten. Die Ihnen nicht sagen "hier ist die Analyse", sondern "ich habe die Analyse gemacht, die Präsentation erstellt, die Meetings geplant und informiere dich nur, wenn was Unerwartetes passiert."
Das ist kein Sci-Fi. Das passiert gerade. Jetzt. Während Sie das hier lesen.
Bei einem unserer Pharma-Kunden habe ich letzte Woche zugesehen, wie ein KI-Agent das komplette Lead-Scoring im CRM neu konfiguriert hat. Selbstständig. Historische Daten analysiert, Conversion-Patterns erkannt, Scoring-Regeln optimiert, neue Workflows vorgeschlagen. Der Sales-Operations-Manager musste nur noch drüberschauen und freigeben. Früher hätte sein Team zwei Wochen dafür gebraucht – zwischen Datenextraktion, Analyse, Testing. Jetzt: drei Stunden.
Und wissen Sie, was das Verrückte ist? Das war nicht mal ein besonders fortgeschrittenes Setup.
Neulich saß ich mit einem Kunden zusammen. Mittelständler, 200 Mitarbeiter, macht Spezialsoftware für die Logistikbranche. Guter Mann, klug, engagiert. Er wollte ein KI-System implementieren. Nichts Fancy, keine Weltraumtechnologie. Einfach intelligente Routenoptimierung für ihre Kunden. Wir haben drei Stunden geredet. Keine Minute davon über Technologie. Alles nur Compliance:
"Ist das High-Risk nach AI Act?"
"Welche Dokumentation brauchen wir?"
"Was ist mit DSGVO?"
"Wie sieht's mit Haftung aus?"
Am Ende sagte er: "Weißt du was, Christian? Lassen wir's. Zu kompliziert." Ein Jahr später lese ich in der Zeitung: US-Startup übernimmt Marktführerschaft in genau seiner Nische. Mit exakt der Technologie, die er implementieren wollte. Das ist Europa 2025 in einem Gespräch.
Hier wird's interessant: Während wir uns in Europa Sorgen machen, wie wir mit den Tech-Giganten mithalten können, ist die eigentliche Disruption woanders passiert.
Open Source KI hat aufgeholt. Nicht ein bisschen. Komplett.
DeepSeek aus China baut Modelle, die mit GPT-4 mithalten – für einen Bruchteil der Kosten. Kimi's K2 Thinking Model macht Claude und ChatGPT Konkurrenz. Und das sind keine schlechteren Kopien. Das sind echte Alternativen. Die Konsequenz? Die Ära von "one model to rule them all" ist vorbei. Unternehmen bauen jetzt Hybrid-Stacks. Ein Modell für komplexes Reasoning, eins für lange Dokumente, ein lokales für sensible Daten. Mix and match.
Ich hatte letzte Woche einen CTO am Telefon, der mir stolz erzählte, dass sie für 90% ihrer Use Cases kein OpenAI mehr brauchen. Alles Open Source. Selbst gehostet. DSGVO-compliant by design. Genau so sollte es laufen. Nur: Das sind Ausnahmen. Die Regel ist leider anders.
Es ist nicht alles Sunshine und Innovation. 2025 hatte auch seine Schattenseiten. Die Copyright-Kriege eskalieren. Anthropic zahlt 1,5 Milliarden Dollar Settlement. Apple wird verklagt. Meta wird verklagt. Britannica verklagt Perplexity. Die Rechnung für das Training auf fremdem Content kommt jetzt.
Und dann die Job-Frage. Die wollen viele nicht hören, aber sie ist real.
Ich sehe es bei Kunden: Coding-Jobs verschwinden. Content Writer werden weniger. Customer Service wird automatisiert. Und jetzt geht die zweite Welle los – Legal, HR, Analyst-Positionen. Gartner hat eine Studie gemacht, die mir Albträume bereitet: "Atrophie kritischer Denkfähigkeiten durch GenAI-Nutzung." Menschen verlernen, selbst zu denken, weil die KI es für sie macht.
Der 16-jährige Sohn eines Kollegen benutzt ChatGPT für alle Hausaufgaben. Alle!?. Verstehen tut er's nicht mehr. Aber die Noten sind gut. Ist das noch Fortschritt?
Lassen Sie mich Ihnen die Timeline geben, ohne die ganzen Details. Nur die Eckdaten, damit Sie verstehen, wie absurd das ist: Die verbotenen KI-Praktiken sind seit Februar in Kraft. Okay, fair enough. Sozial-Scoring wie in China wollen wir nicht. Die Regeln für große KI-Modelle kamen im August. Auch noch vertretbar.
Aber jetzt wird's wild: High-Risk AI Systeme müssen ab August 2026 compliant sein. Systeme, die vor August 2025 entwickelt wurden, haben bis August 2027 Zeit. Großskalige IT-Systeme dürfen bis Ende 2030 warten.
Lesen Sie das nochmal. 2030.
Wissen Sie, was in fünf Jahren in der KI-Welt passiert? Etwa drei komplette Technologie-Generationen. Und dann kam im November der "Digital Omnibus" – Europas Art zu sagen "ups, war wohl doch zu streng." Deadlines verschoben, mehr Sandboxes (aber erst ab 2028!), ein bisschen Real-World Testing. Nur: Es ist zu wenig, zu spät.
Bei jedem Projekt sehe ich mittlerweile die gleiche Rechnung. Ein CRM-Rollout, den wir früher in 12 Wochen durchgezogen haben, dauert jetzt 20 Wochen. Ein Datenmanagement-Projekt mit KI-Komponenten? Hier die Rechnung, die ich meinen Kunden vorlegen muss:
System-Implementation: 150.000 Euro (war früher das Gesamt-Budget)
Rechtsgutachten: 50-200.000 Euro (neu)
Compliance-Implementation: 100-500.000 Euro (neu)
Laufende Audits: 50-150.000 Euro/Jahr (neu)
Das Budget hat sich verdreifacht. Nicht weil die Systeme besser wurden. Sondern weil Regulierung.
Und der wirkliche Killer: Die Opportunitätskosten. Die Features, die wir nicht bauen, weil das Budget für Compliance draufgeht. Die Experimente, die wir nicht machen, weil uns die Rechtsunsicherheit lähmt. Die Innovationen, die nie stattfinden, weil "zu riskant."
Ein Venture-Capitalist hat mir letztens gesagt: "Christian, ich investiere nicht mehr in europäische AI-Startups. Zu hohes regulatorisches Risiko." Das war ein Deutscher VC. Der in Deutschland sitzt. Meine Projekte werden größer und lukrativer. Aber sie werden nicht besser. Sie werden nur teurer und langsamer.
Die Analysten sind sich einig (die Details finden Sie im Fact Sheet am Ende). Die Trends für 2026: Agentic AI wird mainstream. Nicht mehr "cool für Early Adopters", sondern "business critical für alle." Die Productivity-Software-Welt steht vor dem größten Umbruch seit 35 Jahren. Microsoft Office, Salesforce, SAP – alles wird neu gedacht. Oder stirbt.
Security wird zum Albtraum. AI-getriebene Cyberangriffe, die schneller sind als jeder menschliche Defender. Und das Paradoxe: Kritisches Denken wird zur Rarität. Gerade dann, wenn wir es am dringendsten brauchen. Manche Unternehmen werden Mitarbeiter reduzieren. Andere werden massiv für AI-Skills einstellen. Software Engineers und Data Engineers sind die neuen Rockstars.
Der Markt? Wächst weiter wie verrückt. Die Zahlen sind absurd (siehe Fact Sheet). Aber der Wachstum findet woanders statt. USA, China. Nicht hier.
Ich habe viel darüber nachgedacht, wie es weitergehen könnte. Drei mögliche Zukunftsbilder:
Meine Wette? Szenario eins. Status Quo. Verwalteter Niedergang.
Ich hoffe, ich liege falsch.
Genug gejammert. Was können Sie konkret machen?
Falls Sie ein Unternehmen führen:
Falls Sie ein Startup gründen wollen:
Falls Sie in der Politik arbeiten:
Drei Bitten:
Falls Sie Bürger sind:
Mein Job ist es, Business Systeme zu implementieren. CRM, Content Management, Datenplattformen. Systeme, die Unternehmen produktiver machen, die Prozesse optimieren, die Wachstum ermöglichen. Aber immer mehr meiner Zeit geht nicht dafür drauf. Sondern für Compliance-Fragen. DSGVO-Assessments. AI-Act-Bewertungen. Datenschutz-Folgenabschätzungen. Rechtsgutachten.
Früher haben wir über Features gesprochen. Heute über Paragrafen.
Das frustriert mich maßlos. Weil ich genau sehe, was wir sein könnten. Wir haben das Talent. Wir haben Universitäten in der Weltspitze. Wir haben eine Industrie, die komplex und anspruchsvoll ist. Wir haben Geld.
Was fehlt? Der Mut, wieder führen zu wollen.
Stattdessen verstecken wir uns hinter "Ethik" und "Verantwortung." Beides wichtig, keine Frage. Aber nicht als Ausrede für Untätigkeit.
Nächstes Jahr wird sich zeigen, ob Europa im globalen AI-Wettlauf aktiv mitgestaltet oder weiterhin primär als Hüter der Datenschutzordnung am Spielfeldrand agiert. Meine nüchterne Einschätzung: Wir werden überwiegend beobachten. Noch ein Jahr verwalteter Niedergang. Noch mehr Regulierung. Noch weniger sichtbare Innovation.
Aber vielleicht gibt es doch eine positive Überraschung: einen echten Ruck, eine klare Erkenntnis, einen politischen Willen, der mehr anstrebt als weitere PDFs im Amtsblatt.
Vielleicht liege ich falsch.
Wenn nicht, schreibe ich Ende 2026 wieder. Gleicher Artikel, deprimierendere Zahlen, mehr Zynismus, weniger Hoffnung. Ein echter europäischer Evergreen.
Bis dahin:
Sie werden ihn brauchen. Europa auch.
Christian Schappeit
https://protagx.com
PS: Alle Daten, Quellen und detaillierten Analysen finden Sie im beigefügten Fact Sheet. Ja, ich habe Hausaufgaben gemacht. Ja, die Zahlen sind deprimierend. Nein, ich habe sie mir nicht ausgedacht.
PPS: Dieser Text wurde mit KI-Assistenz recherchiert. Die Ironie ist mir bewusst. DSGVO-konform, versteht sich.