Wie die KI-Paranoia unsere Tugenden zu Lastern macht – oder: Warum Sie jetzt absichtlich Fehler einbauen sollten, um noch als Mensch durchzugehen
Liebe Perfektionisten, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen: Ihre Zeit ist vorbei.
In einer Welt, in der jeder zweite Text durch ChatGPT gejagt wird, ist Ihre penible Rechtschreibung nicht mehr Ihre Stärke – sie ist Ihr Verhängnis. Wer heute noch alle Kommata richtig setzt und den Genitiv vom Dativ unterscheiden kann, macht sich automatisch verdächtig.
Stellen Sie sich vor: Sie sind Deutscher. Sie haben jahrelang die Rechtschreibreform studiert, können "dass" von "das" unterscheiden und wissen sogar, wann man "scheinbar" und wann "anscheinend" verwendet. Und was ist der Dank? "Das klingt zu perfekt, das muss KI sein!"
Neulich schickte ich einem Kunden ein Konzept. Strukturiert wie ein Bebauungsplan, präzise wie ein Fahrplan der Deutschen Bahn (okay, schlechtes Beispiel), fehlerfrei wie... nun ja, wie etwas, das ein Deutscher eben abliefert.
Die Antwort? "Herr Schappeit, haben Sie das etwa von einer KI schreiben lassen?"
Das Ironische daran: Ich hatte tatsächlich ein KI-Tool benutzt – aber nur, um meine typisch deutschen Schachtelsätze aufzulockern und ein bisschen weniger wie ein Paragraph aus dem BGB zu klingen. Ich wurde also der Künstlichen Intelligenz bezichtigt, weil ich versucht hatte, weniger maschinell zu klingen. Kafka hätte seine wahre Freude gehabt – wenn er nicht selbst unter KI-Verdacht stehen würde mit seinen perfekt konstruierten Albträumen.
Das Problem ist systemisch geworden:
Wir Deutschen haben ein Problem: Jahrhundertelang waren wir stolz auf unsere Präzision. "Made in Germany" bedeutete Perfektion. Jetzt bedeutet "Written in Germany" plötzlich: vermutlich fake. Das ist, als würde man einen Schweizer Uhrmacher verdächtigen, weil seine Uhr zu genau geht.
Früher hatten wir Rechtschreibnazis (Verzeihung: Rechtschreibpuristen). Die sitzen heute immer noch da, aber mit umgekehrtem Auftrag: Sie suchen nicht mehr nach Fehlern – sie suchen nach dem Fehlen von Fehlern. "Moment mal, kein einziges 'dass/das' verwechselt? Kein vergessenes Komma vor dem erweiterten Infinitiv? ALARM! ALARM! KÜNSTLICHE INTELLIGENZ DETEKTIERT!"
In deutschen Unternehmen gilt jetzt: Wer zu gut ist, ist verdächtig. Das ist wie die Stasi, nur umgekehrt – statt Dissidenten suchen wir jetzt Exzellenz-Extremisten.
Diese KI-Hysterie verändert unser Verhalten:
Dokumentieren Sie Ihren chaotischen Schreibprozess. Die 47 Versionen Ihres Textes sind Ihr Alibi. Kein Roboter würde so ineffizient arbeiten.
Streuen Sie regionale Ausdrücke ein. Kein KI-Modell dieser Welt kann authentisch schwäbeln oder sächseln. "Des basst scho" ist Ihr neuer Turing-Test.
Wenn Sie KI nutzen, sagen Sie es. "Ja, ich habe ChatGPT nach der richtigen Kommasetzung gefragt" ist ehrlicher als "Ich schwöre, diese Perfektion ist rein menschlich!"
Jeder hat sprachliche Ticks. Behalten Sie sie! Ihre Vorliebe für Bandwurmsätze, Ihr obsessiver Gebrauch von "sozusagen" – das ist Ihre Signatur, Ihr Fingerabdruck der Menschlichkeit.
Alan Turing fragte einst, ob eine Maschine so menschlich schreiben könnte, dass wir sie nicht erkennen. Heute fragen wir: Darf ein Mensch noch so präzise schreiben, ohne als Maschine verdächtigt zu werden? Vielleicht definiert sich Menschlichkeit nicht mehr durch Intelligenz – sondern durch strategische Inkompetenz. Durch den bewusst falsch gesetzten Apostroph, das kreative Chaos, die liebevoll gepflegte Rechtschreibschwäche.
Nein, ich bin kein Roboter. Ich bin nur ein Deutscher, der das Pech hatte, in der Schule aufgepasst zu haben. In einer Welt, in der Perfektion zur Straftat wird, bleibt uns nur eines: Der bewusste Fehler als Widerstandsakt. Der Tippfehler als Lebenszeichen. Die Grammatiksünde als Menschlichkeitsbeweis.
Vielleicht sollten wir das sogar ins Grundgesetz aufnehmen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Jeder Mensch hat das Recht auf gelegentliche Rechtschreibfehler." In diesem Sinne: Ich bin ein Mensch. Hören Sie das leise Stolpern in meinen Sätzen? Das bin ich – authentisch unperfekt, menschlich fehlbar, und verdammt stolz darauf.
PS: Dieser Text wurde von einem echten Menschen verfasst. Die drei Kommafehler sind Absicht. Finden Sie sie?